Neue Studie: Verschwörungsmentalität in Krisenzeiten
Dr. Kai Unzicker
Desinformationen nehmen nicht nur immer neue Wege, sondern auch unterschiedliche Formen an. Eine häufige Variante stellen Verschwörungserzählungen dar. Dabei wird der Eindruck erweckt, im Hintergrund würden geheime Mächte bei verschiedenen Ereignissen die Fäden ziehen. Will man verstehen, warum Desinformationen sich so gut verbreiten und so häufig geglaubt werden, lohnt es sich deshalb, einen genaueren Blick auf Verschwörungserzählungen zu werfen. Das haben wir getan. Genauer gesagt, haben wir uns in einer neuen Studie angeschaut, welche Menschen besonders anfällig für Verschwörungserzählungen sind. Zu diesem Zweck haben wir nicht einzelne konkrete Verschwörungen untersucht, sondern die zugrundeliegende Disposition dazu zu neigen an Verschwörungen zu glauben analysiert: die sogenannte Verschwörungsmentalität.
Verschwörungsmentalität ist weit verbreitet
In unserer Befragung von rund 2.700 Personen ab 16 Jahre in Baden-Württemberg hat sich gezeigt, dass die Verschwörungsmentalität weit verbreitet ist. Mehr als die Hälfte der Befragten sind zum Beispiel davon überzeugt, dass es viele Dinge gibt, über die die Öffentlichkeit nie informiert wird oder das Politiker:innen normalerweise ihre wahren Motive verheimlichen. Ein Drittel der Befragten ist außerdem der Meinung, geheime Organisationen hätten einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen. insgesamt fanden wir in unserer Analyse wir bei 19 Prozent der Befragten eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität. Was aber nicht zwingend bedeutet, dass diese Menschen zu jedem Zeitpunkt eine spezifische Verschwörungserzählung glauben oder gar offensiv vertreten. Vielmehr beschreibt die Verschwörungsmentalität ihre prinzipielle Anfälligkeit für solcherlei Mythen und Erzählungen. Nur ein Drittel der Bevölkerung scheint gegen Verschwörungserzählungen immun und weist kaum Anzeichen dieser Mentalität auf.
Desinformationen docken an den vorhandenen Verschwörungsmentalitäten an
Wenn Menschen davon überzeugt sind, dass unter der Oberfläche der sichtbaren Öffentlichkeit finstere Pläne umgesetzt würden und dass man Politiker:innen nicht trauen könne, dann sind dies Andockpunkte für Desinformationen. Diese Narrative bestätigen häufig die latent vorhandenen Überzeugungen und schmücken sie jeweils mit neuen, zur aktuellen politischen Lage passenden Geschichten aus. Wenig verwunderlich ist es da, dass über Jahrzehnte, manchmal auch über Jahrhunderte hinweg, die immer gleichen Erzählungen in aktualisierten Gewändern auftauchen.
Verunsicherung und geringe Bildung verstärken Neigung zu Verschwörungsmentalitäten
Wer pessimistisch in die Zukunft blickt und verunsichert ist oder eine geringe formale Bildung hat, neigt mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Verschwörungsmentalität. Ebenso jene, die sich in ihrem wirtschaftlichen Status bedroht sehen oder die den Eindruck haben, ihre eigenen Bedürfnisse würden in der Politik nicht genug berücksichtigt werden. Gerade in wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten haben Verschwörungsnarrative deshalb Konjunktur und Desinformationen verfangen besonders gut. Umgekehrt weisen vor allem jene Menschen eine geringere Verschwörungsmentalität auf, die stärker in die Gesellschaft eingebunden sind; Menschen mit mehr Kontakten in ihrem Umfeld, einer stärkeren Verbundenheit und größerem Engagement.
Verschwörungsnarrative brauchen Gegenrede
Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat in den letzten Monaten und Jahren insbesondere dort gelitten, wo es weniger Menschen gibt, die über eine gewisse Immunität gegenüber Verschwörungsnarrativen verfolgen. Die negativen Effekte von Verschwörungsnarrativen verfangen vermutlich eher dort, wo es weniger Widerspruch und soziale Korrektive gibt. Es braucht wohl eine kritische Masse von Personen, die entweder argumentativ dagegenhalten und Verschwörungserzählungen widerlegen oder zumindest öffentlich sichtbar für vernünftige und rationale Positionen eintreten, damit das Miteinander in der Gesellschaft stabil bleibt.
Desinformation bekämpfen und die Empfänglichkeit für Verschwörungserzählungen reduzieren
Gerade in Krisenzeiten, das zeigt die Studie, ist es besonders wichtig, auf der einen Seite die Verbreitung von Desinformationen einzuschränken. Auf der anderen Seite ist es aber genauso wichtig, dafür zu sorgen, dass die von ihnen transportierten Verschwörungserzählungen nicht mehr so leicht verfangen können. Dazu gilt es, zunächst für mehr Sicherheit und Stabilität bei den Bürger:innen zu sorgen, denn je größer die Unsicherheit, desto stärker die Gefahr, dass Verschwörungserzählungen verfangen. Genauso wichtig ist es aber auch, möglichst wenige Menschen ohne soziale Beziehungen, die als Korrektiv und Anker dienen können, allein zu lassen: Wer eingebunden ist und sich nicht alleingelassen fühlt, scheint resilienter. Zuletzt müssen aber auch die notwendigen Kompetenzen vermittelt werden, um auch in unübersichtlichen Zeiten, in denen Informationen aus zahlreichen Quellen auf jeden Menschen einströmen, Wahrheit von Lüge unterscheiden zu können.
Die Studie „Verschwörungsmentalität in Krisenzeiten“ von Georgi Dragolov, Klaus Boehnke und Kai Unzicker ist eine vertiefende Analyse von Daten einer Online-Befragung von rund 2.700 Personen ab 16 Jahre in Baden-Württemberg. Die Befragung fand zum Jahreswechsel 2021/2022 statt und diente der Untersuchung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Coronapandemie. Der komplette Report zu Verschwörungsmentalitäten kann hier heruntergeladen werden: