Virtuelle Welten und Teilhabe

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Prof. Dr. Thorsten Thiel, Dr. Susanne Kailitz

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Virtuelle Welten üben auf viele Menschen eine hohe Faszination aus. Sie sind verlässlicher Bestandteil von Science-Fiction-Filmen und Romanen. Das Versprechen der computergenerierten Umgebungen, in die Menschen über VR-Brillen und Controller eintauchen können: Hier ist alles möglich. In virtuellen Welten sind wir nicht an Naturgesetze gebunden und können uns in jede denkbare Umgebung oder Situation hineinversetzen (lassen). Virtuelle Welten halten also eine unbegrenzte Erweiterung unserer Möglichkeiten für uns bereit – jedenfalls im Spiel. Können sie aber auch auf Demokratie und Beteiligungsprozesse wirken?

Worum geht es?

Jede Interaktion mit digitaler Technologie schafft digitale Abbilder von Realität, die sich verändern und spezifizieren lassen und insofern Realität(en) nachahmen, abbilden und anreichern – so auch in virtuellen Realitäten. Im Diskurs ist der Begriff aber meist enger gefasst: Er wird genutzt für Technologien, die die Sinneswahrnehmung unmittelbar durch digital geschaffene oder kuratierte Informationen ergänzen oder überlagern.

Symbolisiert wird dies insbesondere durch Datenbrillen. Sie erlauben es, visuelle Eindrücke zu erzeugen, die wir als besonders eindringlich und umfassend erleben. In Bezug auf virtuelle Welten wird unterschieden zwischen Techniken der erweiterten Realität (augmented reality), die Inhalte zusätzlich zur sichtbaren Realität anzeigen und so die menschliche Wahrnehmung der Realität erweitern, und der virtuellen Realität (virtual reality), in der die Nutzer:innen in eine künstlich generierte Umgebung eintauchen.

In den vergangenen Jahren hat sich die Entwicklung virtueller Welten stark beschleunigt. Dies liegt an mehreren, ineinandergreifenden Entwicklungen. Zum einen haben sich auf der technisch-materiellen Seite Bauteile immer weiter verkleinert, sodass es immer besser möglich ist, den Technologieeinsatz zu verstecken. Hörgeräte, aber auch Datenbrillen werden zunehmend weniger auffällig; direkte Implantate oder neurologische Verfahren wären mögliche nächste Schritt in der Entwicklung.

Zugleich nehmen die Kapazitäten für die Berechnung von Inhalten und für die Vernetzung von Geräten stark zu. Damit wird die grafische Darstellung virtueller Welten immer besser – und damit auch die Möglichkeiten der Immersion, also des Eintauchens in die künstliche Umgebung, ohne dass wir sie noch als solche wahrnehmen. KI-Verfahren sorgen immer stärker dafür, dass virtuelle Welten nicht vorgefertigt sein müssen, sondern reaktiver, interaktiver und damit individualisierbarer werden. Schließlich erlaubt die umfassende Vernetzung es, die Verfügbarkeit virtueller Welten und Informationen weiter auszudehnen und verschiedene Welten zu verbinden. Besondere Aufmerksamkeit ist hier dem Konzept des Metaverse zuteilgeworden. Dabei handelt es sich um einen digitalen Raum, in dem Menschen über Avatare miteinander agieren können und der insbesondere durch den Facebook-Mutterkonzern Meta begrifflich monopolisiert wird.

Abhängig von den konkreten Technologien und Anwendungen, die sich durchsetzen, wird die Nutzung virtueller Welten sehr unterschiedliche gesellschaftliche Auswirkungen haben und unterschiedlich weitreichend sein. Es ist das zentrale Versprechen virtueller Welten, dass wir sie als echte Präsenz erfahren und die Erfahrungen, die wir darin über unsere Avatare machen, als direkt handlungsrelevant angesehen werden. Die virtuellen Repräsentant:innen einer Person sind als digitale Abbilder flexibel und veränderbar. Sie erlauben es, dass wir uns im digitalen Raum ganz anders und unter Umständen viel umfassender bewegen, als es in der wirklichen Welt möglich wäre.

Was sind die Potentiale und Risiken?

Die Ausweitung der Nutzung virtueller Welten hat das Potential, unseren Alltag stark zu verändern – etwa als interaktive Lernumgebung in Schulen, Simulationstraining im Bereich der Medizintechnik oder für Fahranfänger:innen, die erst Übungsstunden in einer virtuellen Welt absolvieren müssen, bevor man ihnen erlaubt, die Autobahn zu nutzen. Die Auswirkungen auf Demokratie sind diffuser. Weder staatliches Handeln noch die Dynamik öffentlicher Diskurse werden in naher Zukunft so unmittelbar verändert werden, wie dies etwa durch generative oder analytische künstliche Intelligenz zu erwarten ist. Mittel- bis langfristig lässt sich aber insbesondere über relevante Veränderungen in Bezug auf gesellschaftliche und politische Partizipation spekulieren.

Schutz vor Diskriminierung und Potential für mehr Selbstbestimmung

Virtuelle Welten erlauben es Individuen, sich flexibel darzustellen. Ein Avatar ist kein genaues Abbild einer Person, unterscheidet sich in Eigen- und Fremdwahrnehmung also unter Umständen erheblich von der Person, die er repräsentiert. Wie wir uns in der virtuellen Welt präsentieren, ist selbstbestimmt und veränderbar. Das birgt die Chance, Diskriminierung zu verringern – wenn etwa stark stereotypisierte Personengruppen die Möglichkeit bekommen, Vorverurteilungen zu umgehen, oder körperlich beeinträchtigte Menschen intensiv und umfassend in gesellschaftliche Diskurse eingebunden werden, an denen sie sonst nicht teilnehmen könnten.

Empathie durch neue Blickwinkel

Gleichzeitig kann die Möglichkeit, Erfahrungen von anderen Positionen und Lebenslagen anschaulich und nachvollziehbar zu machen, auch umgekehrt eine Chance sein, dass Menschen durch virtuelle Experimente ihren Horizont erweitern und Situationen mit „anderen“ Augen sehen. So lassen sich etwa eine Vielzahl von Anwendungen im Bereich der politischen Bildung denken, die das Verständnis und die Kompromissbereitschaft mit anderen erhöhen können oder bei denen man in sicheren virtuellen Räumen Diskussionen zwischen Extrempositionen ermöglicht.

Gleiche Teilhabechancen in virtuellen Welten

Wie bei allen (medial vermittelten) Intensivierungen von Partizipation und gesellschaftlichem Austausch muss auch bei der virtuellen Erweiterung von Kommunikationsformen geprüft werden, wie realweltliche Unterschiede sich in die veränderte Umgebung transferieren und wodurch Benachteiligungen ausgeglichen werden können: Haben alle Personen, unabhängig von ihrer sozialen oder ökonomischen Stellung, gleichermaßen die Möglichkeit zu partizipieren und Berücksichtigung zu finden? Inwieweit lassen sich Designentscheidungen treffen, die der Verschärfung von Ungleichheiten entgegenwirken oder diese abbauen?

Verknüpfung analoger und virtueller Identitäten

Außerdem wird abzuwarten sein, inwiefern die Trennung von analoger und virtueller Identität erlaubt und praktiziert wird oder auch welche Folgen z. B. das ungewollte Aufdecken von realen Identitäten hat (Digitale Identitäten). Die Frühgeschichte des Internets, Online-Rollenspiele und soziale Medien bieten hier bereits Anschauungsmaterial dafür, dass die Identitätsaushandlung in oft pseudonymen virtuellen Welten so dynamisch wie ambivalent sein kann. Freiheitserfahrungen und die Möglichkeit kleinerer Gruppen, sich zu finden und in relativ geschützten Räumen zu kommunizieren, sind ebenso bekannte Wirkungen wie Hass und ein Ausnutzen neuer Vulnerabilitäten.

Aktive und präventive Moderation in virtuellen Welten notwendig

Virtuelle Welten brauchen also gerade, wenn sie im Alltagsleben normalisiert werden und weil die in ihnen gemachten Erfahrungen eine große Unmittelbarkeit versprechen, eine relativ starke, d. h. aktive und oft auch präventive Moderation. Dies zeigte sich etwa anschaulich, als der Konzern Meta für Avatare in der von ihm geschaffenen und kontrollierten virtuellen Umgebung Horizon Schutzblasen einführen musste, um Übergriffen und sexueller Belästigung vorzubeugen. Mit Blick auf konkrete politische Beteiligungsverfahren und -formen ist zudem zu bedenken, dass in einer virtuellen Umgebung noch weniger beurteilt werden kann, wie repräsentativ Partizipation ist und wie breit die Unterstützung für eine Meinung oder Position wirklich ist – denn auch manipulative und nicht-authentische Kommunikation profitiert von den sinkenden Beteiligungskosten und der grafischen Überformung der Handlungsumgebung.

Gefahr von eingebauter Manipulation und Kontrolle

Auch eine weitere Dimension muss bedacht werden, wenn es um die Auswirkungen der Technik auf die Demokratie geht: Während die Nutzung virtueller Welten aus der Perspektive der Individuen etwas Unverbindliches und Spielerisches hat, birgt ihre Architektur eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Überwachung und Manipulation. Ungeachtet dessen, ob sich eine zentralisierte oder eine dezentralisierte Variante virtueller Kommunikationswelten durchsetzt, erfordert die Erzeugung dieser Welten etwa eine Vielzahl biometrischer Daten (etwa für das Identitätsmanagement, aber auch für Dinge wie die Blickrichtung und natürlich wirkende Hand- und Körperbewegungen) sowie eine permanente Beobachtung und Speicherung von Verhaltensdaten, schon um die Welten beständig zu machen.

Virtualität beschleunigt und festigt somit die Erfassung und Vermessung unserer normalen Lebenswelt, deren Durchdringung mit Sensoren und Kameras sowie die Nachvollziehbarkeit durch Aufzeichnung und Analyse von Verhalten. Virtuelle Welten sind deshalb auch nicht anonym, sondern sie bieten vielfältige Ansatzpunkte für Hierarchien und Kontrolle. Zudem sind die entstehenden Informationsumgebungen hochgradig und oft einseitig konfigurierbar. Individuelle Informationsflüsse können protokolliert und teilweise gelenkt werden, Informationen auf individueller Basis hinzugefügt oder ausgeblendet werden. Das macht die entstehenden Öffentlichkeiten anfällig für Beeinflussung und es wird entscheidend sein, ob diese Daten ausschließlich in privatwirtschaftlicher Hand liegen, stärker datenschutzrechtlich erfasst oder etwa von Staaten zur Überwachung genutzt werden.

Unter dem Strich

Solange wir digital kommunizieren, wird digitale Identität ein strukturelles Dauerthema bleiben – und ein permanentes Identifikations- und Verifikationsproblem mit sich führen. Wir sehen, dass Menschen immer weniger in anonymen Kontexten kommunizieren; das führt dazu, dass die Feststellung der Identität eines Menschen jederzeit und auch rückwirkend möglich wird und immer umfangreicher mit Verhaltensdaten verknüpft ist. Mit Blick auf die Demokratie sind diese Effekte ambivalent zu bewerten. Was gebraucht wird, sind Identitätsmanagementsysteme, die es Bürger:innen erlauben, selbst darüber zu entscheiden, wie und in welchem Umfang sie Daten teilen und sich erkennbar machen.

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