Cathleen Berger, Charlotte Freihse, Vincent Hofmann, Matthias C. Kettemann, Katharina Mosene

Dezentralisierung als Demokratisierung: Mastodon statt Plattformmacht

Impulse #1
  • 1. Warum beschäftigen wir uns mit dem Fediverse?

    Eine häufig geäußerte Kritik im digitalen Zeitalter ist, dass zu viel Macht in den Händen weniger Einzelner liegt. Eine demokratische und am Gemeinwohl ausgerichtete kommunikative Infrastruktur, vor allem auf sozialen Plattformen, steht den Geschäftsmodellen großer kommerzieller Plattformen fundamental entgegen. In der Diskussion um gemeinwohlorientierte Alternativen gewinnt deshalb das sogenannte Fediverse zunehmend an Relevanz. Der Begriff Fediverse setzt sich aus den englischen Wörtern „federation“ und „universe“ zusammen und bezeichnet einen Zusammenschluss föderierter, sozialer Netzwerke und anderer Online-Dienste, die alle unabhängig, aber miteinander kompatibel sind.

    Dezentrale Kommunikationsräume versprechen die dominanten Machtverhältnisse aufzubrechen. Entscheidungen über technische Ausgestaltung, Nutzer:innenmanagement und Inhaltsmoderation werden auf eine Vielzahl von Instanzen und deren jeweilige Betreiber:innen verteilt und folgen nicht mehr primär gewinnorientierten Logiken. Der Fokus soll wieder auf Kommunikation und Interaktion gerichtet werden, statt die Gewinnmaximierung der Plattformökonomie voranzutreiben.

    Mastodon als Teil des Fediverse

    Im Fediverse bündeln sich verschiedene, unabhängige dezentrale Dienste mit Namen wie Peertube, Hubzilla, Diaspora oder Mastodon. Die Anfänge dieser Dienste reichen bis 2008 zurück und über die Jahre sind weitere Anwendungen hinzugekommen, die sich eines gemeinsamen Standards bzw. eines Protokolls, dem „ActivityPub“, bedienen. Darüber wird der Austausch von Nutzer:innen über die Grenzen der eigenen Plattform hinweg ermöglicht. Das heißt: die technische Interoperabilität wird mit einer kommunikativen Interoperabilität verbunden. Hier gelingt, was wir von E-Mails kennen, aber auf Facebook, Twitter, TikTok und Co. nicht möglich ist: Dienste-übergreifende Kommunikation mittels eines einzigen Accounts.

    Die bekannteste und eine derzeit breit diskutierte Anwendung ist Mastodon. Besonders seit Elon Musk Ende 2022 Twitter gekauft hat, gilt Mastodon als die Alternative zu klassischen sozialen Netzwerken. Mastodon wird seit 2016 entwickelt und zählt über Instanzen verteilt aktuell ca. 11.2 Millionen Nutzer:innen (Stand April 2023) – wobei mehr als 10 Millionen erst seit Oktober 2022 hinzugekommen sind. Es wird maßgeblich über Crowdfunding finanziert und über kollektiv organisierte Mittel gefördert.

    Was macht das Fediverse im Vergleich zu großen sozialen Plattformen interessant?

    Besonders spannend am Fediverse ist das Potenzial, eine gemeinwohlorientierte Kommunikationsalternative zu den privatwirtschaftlichen, gewinnorientierten Plattformen darzustellen. Die zentrale Kritik an großen sozialen Plattformen lässt sich in mindestens drei Bereiche unterteilen: (1) Sammlung und Verkauf von Daten über Nutzer:innen und ihr Verhalten für Werbezwecke (Stichwort: Überwachungskapitalismus); (2) Inhaltsmoderation und Verhaltensregeln, die dem Wertekodex der entweder im Silicon Valley oder in China angesiedelten Unternehmen folgen (Stichwort: Digitaler Kolonialismus) und (3) geschlossene Plattformen, die Nutzer:innen so viel und lange wie möglich in den eigenen Diensten halten, mitunter entgegen dem individuellen Wohlbefinden der Nutzer:innen (Stichwort: Aufmerksamkeitsökonomie).

    Das Fediverse als dezentrale, nicht-profitorientierte Infrastruktur schürt Hoffnung, für alle drei kritisch hervorgehobenen Bereiche eine Alternative zu bieten. Insbesondere folgende drei Punkte stehen hierbei im Zentrum: keine nutzerbasierte Werbung, dezentrale Räume mit vielfältigen Verhaltensregeln und Interoperabilität.

    Doch wie steht es praktisch und in der heutigen Umsetzung um transparente Moderationspraktiken? Schaffen Dezentralität und Nicht-Kommerzialisierung wirklich einen inklusiven Raum, in dem alle gehört werden?

    Anders gefragt: Kann das Fediverse die Hoffnungen einlösen, die in dezentrale Netzwerke gesetzt werden?  Dies haben wir am 18. April 2023 gemeinsam mit Expert:innen reflektiert.

  • 2. Die zentralen Herausforderungen des Fediverse

    Die Herausforderungen, die mit großen, kommerziellen Plattformen einhergehen, werden seit Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert. Aktuell gehen zahlreiche Diskussionen mit der Frage einher, ob dezentrale Netzwerke als experimentelle Räume für demokratische Kommunikation genutzt und gestaltet werden können. Und: Können die kommerziellen Anbieter von den dezentralen lernen? Um diese Fragen im Austausch systematisch zu reflektieren, haben wir zwei Hypothesen formuliert:

    1. Rechtssicherheit ist in dezentralen Netzwerken noch nicht ausreichend gegeben.
      Dezentral bedeutet mit Blick auf Moderation auch: alle könnten etwas tun, aber niemand macht es (notwendigerweise). Die Anreize, gut zu moderieren, sind nicht ökonomisch; sie können altruistisch sein, aber sie können auch fehlen. Die Instanzen sind je nach Größe und Professionalität der Moderation sehr unterschiedlich ausgestattet, sowohl mit finanziellen als auch personellen Ressourcen. Erfolgreiche „Content Governance“ (Beteiligung und Moderation von Inhalten) benötigt eine angemessene Ausstattung und Professionalisierung.
    2. Die vermeintlich demokratischeren Strukturen des Fediverse in ihrer jetzigen Form können marginalisierte Gruppen benachteiligen.
      Die meisten Instanzen im Fediverse werden derzeit in Europa oder Nordamerika betrieben. Entsprechend sind die Betreiber:innen dieser Instanzen oft weiße, männlich gelesene Personen, was eine einseitige Perspektive auf die Bedürfnisse und Herausforderungen von Nutzer:innen zur Folge haben kann. Die Moderation der Inhalte übernehmen zudem Freiwillige – das klingt basisdemokratisch, kann aber für marginalisierte Gruppen hochproblematisch sein, wenn diese nicht an den Entscheidungen teilhaben. Es gestalten eben längst nicht alle mit.

    Diese Hypothesen führen zu drei zentralen Fragen:

    1. Wie lassen sich dezentrale Alternativen finanzieren?
    2. Lassen sich Teilhabe und sichere Räume skalieren?
    3. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um eine positive, am Gemeinwohl ausgerichtete Entwicklung des Fediverse anzuregen?

    2.1 Mastodon als Business-Modell: Wer soll dezentrale Netzwerke zukünftig wie finanzieren?

    Der Mehrwert des Fediverse liegt in seiner nicht-kommerziellen Ausgestaltung, in der Anwendungen und Instanzen zu einem Großteil von Individuen und kleineren Organisationen aufgesetzt und gemanagt werden. Für das Hosting der Instanzen fallen je nach Nutzer:innenanzahl und Kommunikationsaufkommen Serverkosten an. Hinzu kommen Aufwände für technischen Support, Community Management sowie die Moderation von Inhalten – die derzeit in aller Regel unentgeltlich von Freiwilligen erbracht werden. Jede:r Instanzenbetreiber:in muss zudem Verhaltensregeln (engl. Code of Conduct) für die Anmeldung, Nutzung und auch die Inhalte festlegen, an die die Nutzer:innen dieser Instanz gebunden sind. So wird beispielsweise in einigen Instanzen eingefordert, dass Inhalte zur Klimakrise, geschlechtsbezogener Gewalt oder dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit einer „Content Warning“ (deutsch: Inhaltswarnung) versehen werden. In anderen Instanzen liegt der Fokus auf dem Austausch zu bestimmten Themen, zum Beispiel Gaming, Haustiere oder Religion.

    Je größer Instanzen werden und je mehr Menschen sich im Fediverse organisieren, desto höher die Kosten für den Betrieb, die Instandhaltung, den Support und die Moderation. Die Befürchtung hier: je größer der Erfolg des Fediverse, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die notwendigen Ressourcen ausschließlich über ehrenamtliche Strukturen gedeckt werden können.

    Welche Finanzierungsmöglichkeiten bzw. Geschäftsmodelle sind grundsätzlich vorstellbar?

    • Werbung: Analog zu den kommerziellen sozialen Plattformen könnten Betreiber:innen von Fediverse-Instanzen entscheiden, Einnahmen über Werbedeals oder den Verkauf von Nutzer:innendaten (Stichwort: ad tracking) zu generieren. Wenig überraschend: das ist kontrovers und kaum inspirierend. Hier würde es um eine radikale Abkehr von der nichtkommerziellen Logik der meisten Instanzen gehen und damit um eine (Re-) Kommerzialisierung der Netzwerke nach Vorbild der großen sozialen Plattformen.
    • Abo-Modell: Als gutes Beispiel lässt sich die Instanz des ehrenamtlichen Vereins Digitalcourage anführen. Diese verlangt für Datenschutz und Moderation einen Betrag in Höhe von einem Euro pro Monat von den Nutzenden. Ob dieser Beitrag die tatsächlichen Kosten deckt, ist schwer einzuschätzen. Zumindest ließe sich hieraus eine tragbare Option ableiten.
    • Öffentliche Gelder: Denkbar wäre, den Staat als Akteur stärker in die Verantwortung zu nehmen und die Bereitstellung und Gewährleistung von kommunikativen Infrastrukturen rechtlich verpflichtend zu regeln. Obwohl möglich, steht dieser Ansatz auch in einem Spannungsverhältnis mit einer digitalen Realität, die nicht an Staatsgrenzen endet – und die gerade aus ihrer Staatsferne Vorteile zieht.
    • Förderung von zivilgesellschaftlichen Organisationen: Institutionelle Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen könnte neue Räume schaffen, um Beratungsstellen für den Aufbau und die Pflege von Fediverse-Instanzen, Datenschutz und Moderation von Inhalten aufzusetzen. Gleichzeitig könnten sich Organisationen auf gemeinschaftliche Ansätze für eine Lösung von Konflikten, Best Practices zur Schaffung sicherer Diskursräume und ähnliches spezialisieren. Neben Fragen der Skalierung kommt es hierbei darauf an, einen eurozentristischen Bias zu vermeiden.
    • Digitales Ehrenamt: Alternative Modelle könnten sich über eine Ausweitung und umfassende Förderung von Ehrenämtern und lebenslangen Möglichkeiten für freiwilliges Engagement ergeben. Ein spannender Ansatz, der aber zumindest kurz- und mittelfristig die Moderationsherausforderungen dezentraler Netzwerke nicht löst.

    Insgesamt wurde in der Reflektion über die Finanzierung und Geschäftsmodelle deutlich, dass den Problemen bzw. Herausforderungen, die wir beobachten, gesellschaftliche Strukturen zu Grunde liegen – die nicht schlicht im Digitalen gelöst werden. Sie skalieren digital aber anders, was im Umkehrschluss bedeutet: gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Benachteiligen manifestieren sich im digitalen Raum. Je nach Finanzierungsmodell können Privilegien manifestiert oder marginalisierte Gruppen weiter benachteiligt werden. Wer dezentrale Kommunikationsräume nachhaltig und gemeinwohlorientiert finanzieren möchte, steht daher vor der Herausforderung, intersektionale Bedürfnisse im Blick zu behalten und Verantwortung konsequent zu hinterfragen.

    2.2 Mastodon und Empowerment: Lassen sich Teilhabe und sichere Räume skalieren?

    Vor dem Hintergrund der Beobachtungen um Geschäftsmodelle stellt sich die Frage nach Mitgestaltung, Teilhabe und Empowerment im Fediverse umso stärker. Mitgestaltung kann verschiedene Dimensionen haben: die absolute Form von Mitgestaltung, also das Hosting eigener Instanzen im Fediverse oder eine demokratische Form der Governance, die Teilhabe und Empowerment fördert, insbesondere von marginalisierten Gruppen. Im Folgenden wägen wir drei Auslegungen von Mitgestaltung nach Vor- und Nachteilen ab:

    • Self-Governance: Wenn es um das eigene Hosting geht, gilt es Datenschutz zu gewährleisten und Verhaltensregeln zu entwickeln. Dies erfordert Fachkompetenzen sowohl technischer als auch rechtlicher und kultureller Natur. In der Theorie liegt hier viel Potenzial für inklusive Räume, in denen verschiedene Gemeinschaften ihre jeweiligen Verhaltensregeln selbst festlegen. Doch kommunikative Machtstrukturen scheinen überraschend stabil. In seiner aktuellen Struktur sind die meisten Nutzer:innen des Fediverse männlich gelesen, weiß, technisch-affin – ähnlich wie die Betreiber:innen der Instanzen. Das ist eine Herausforderung für die inklusive Entwicklung dieser Kommunikationsräume.
    • Mitgestaltung von Verhaltensregeln: Die „bottom-up“-Modelle des Fediverse, die sich in den Verhaltensregeln der jeweiligen Instanzen widerspiegeln, sind eine entscheidende Stellschraube für Beteiligung und Mitgestaltung. Diese dienen als soziale Regeln, was auf den Instanzen gesagt und verbreitet werden darf. Dabei gehen die „Codes of Conduct“ oft weiter als staatliches Strafrecht oder Maßnahmen zur Förderung von Gleichberechtigung. Gesellschaftliche Fortschritte, die noch nicht rechtlich tradiert sind, können hier mitunter eher und breiter abgebildet werden. Durch den dezentralen Charakter gehen solche Verhaltensregeln häufig auch weiter als die Nutzungsbedingungen etablierter, kommerzieller Plattformen.
    • Technisches Empowerment: Auch eine verstärkte Integration aller Nutzer:innen an der technischen Weiterentwicklung von Features stellt sich als machtvolles Instrument der Verbreitung von kommunikativer Macht dar. Allerdings werden Anfragen für die technische Weiterentwicklung über GitHub organisiert – ein Entwicklungsraum, der mit seinen eigenen Zugangs- und Diversitätshürden umzugehen hat (GitHub ist eine Open-Source-Anwendung, die zur Microsoft Corporation gehört).

    Um die Potenziale für Mitgestaltung und Empowerment konsequent weiterentwickeln zu können, besteht Förder- und Beratungsbedarf. Für eine konstruktive und inklusive Ausgestaltung – auf technischer, rechtlicher und kultureller Ebene – sind die Instanzen häufig auf Hilfe angewiesen. Hierfür könnten beispielsweise die Entwicklung und Bereitstellung von Musterbedingungen oder auch Beratungsstellen für Interessensausgleiche weitergedacht werden. So könnten Instanzen aus verschiedenen Bedingungen wählen und so mit fachlicher Unterstützung die eigenen Vorstellungen von Moderationsregeln gemeinschaftlich (weiter-)entwickeln.

    2.3 Mastodon als Gemeinwohl-Katalysator: welche Bedingungen müssen gegeben sein, um die positive Entwicklung des Fediverse voranzutreiben?

    Ein wichtiger Faktor für eine positive Entwicklung des Fediverse ist die Förderung von Vielfalt und Teilhabe. Dies bedeutet, dass die dezentralen Plattformen so gestaltet werden müssen, dass sie für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Interessen und Bedürfnissen zugänglich und gestaltbar sind. Dies kann durch Gemeinschaften (oft englisch: Communities) oder Gruppen erfolgen, die auf spezifische Themen oder Interessen ausgerichtet sind. In unseren Diskussionen wurden drei Themenkomplexe hervorgeheben, deren Ausgestaltung noch sehr viel mehr Gesprächsbedarf mit sich bringt:

    • Rolle demokratischer Strukturen: Eine Idee, wie solch eine Vielfalt in der Moderation gelingen kann, ist die Einführung von Demokratisierungstools wie Instanzbeiräten. Diese werden teilweise auch für große Plattformen gefordert und in der Umsetzung des europäischen Rechtsakts über digitale Dienste (Engl. Digital Services Act, DSA) debattiert. Prozesse und Ressourcen für Einrichtung wie Umsetzung solcher Strukturen sind in der Praxis aber alles andere als geklärt.
    • Rolle von Unternehmen: Kontrovers ist die Rolle von Unternehmen in den Instanzen. Einerseits braucht es bekannte Unternehmen als „Zugpferde“, um weitere Menschen zum Umstieg auf die dezentralen Netzwerke zu bewegen. Andererseits führt dies automatisch zu einer den großen Netzwerken entsprechenden marktwirtschaftlichen Logik, welche gerade durch die dezentralen Netzwerke überwunden werden sollte. Können die dezentralen Netzwerke kommerzielle Nutzer:innen gewinnen, ohne sich einer kommerziellen Logik zu unterwerfen?
    • Rolle von öffentlich-rechtlichen Stellen: Neben der Regelsetzung ist auch die Durchsetzung von Regeln herausfordernd. Sie umfasst Ressourcen und normativ-technische Kompetenz. Beides könnte von öffentlich-rechtlichen Stellen in ein Netzwerk mitgebracht werden. Diese könnten – mit entsprechenden Mitteln ausgestattet – die professionelle Moderation im Interesse einer diversen Debatte sichern. Doch gerade die Staatsferne der Debatten ist (auch aus rechtlicher Sicht) ein entscheidender Faktor für die Attraktivität der dezentralen Netzwerke.

    2.4 Beobachtungen und Empfehlungen für die Zukunft dezentraler Netzwerke

    Das Narrativ vom globalen digitalen Dorf, in dem alle Grenzen überwunden werden, wurde einst von den kommerziellen, sozialen Plattformen als vermeintliche Utopie geprägt. Mit dem Wachstum von und der Aufmerksamkeit auf dezentrale Alternativen geht ein neues, teilhabe-fokussiertes Narrativ einher, in dem viele, kleine digitale Dörfer unabhängig agieren, aber technisch miteinander verbunden sind. Gleichzeitig wird mit der Abbildung unserer vielfältigen Realität auch deutlich, was im Analogen, was gesellschaftlich und systemisch in unseren Strukturen verankert ist. Das „Digitale“ kann solche Strukturen nicht magisch aufbrechen – mitunter kann es jedoch helfen, Wandel sichtbarer zu machen.

    1. Dezentralisierung von Diskursen: Dezentrale Netzwerke wie Mastodon können auf verschiedene Weise zum Gemeinwohl beitragen. Zum einen ermöglichen sie eine freiere und unabhängigere Kommunikation, da sie nicht von einem zentralen Anbieter kontrolliert werden. Auf diese Weise kann ein pluralistischer und vielfältiger Diskurs entstehen, der auch marginalisierte Stimmen einschließt. Diskurse werden hier nicht global-zentral gesteuert, sondern können gemeinschaftlich und interessengeleitet moderiert werden.
    2. Mitgestaltung und Transparenz: Bisher lässt sich feststellen, dass variierende Moderationsregeln und -praktiken auf den unterschiedlichen Mastodon-Instanzen weder zu einer breiten und tiefen Demokratisierung der Regelungspraktiken noch zu echter Prozess-Transparenz beitragen. In der klassischen Plattformlandschaft führt das europäische Modell der Digitalregulierung aktuell zu einem positiv zu bewertenden Mehr an Compliance-Pflichten. Im Fediverse sollten künftig auch andere Ansätze für Community-Building pilotiert und iteriert werden. Für die Entwicklung solcher Visionen und Pilotprojekte wären Nutzer:innenbefragungen, insbesondere unter Einbeziehung marginalisierter Gruppen, ein wichtiger Indikator.
    3. Rechtsdurchsetzung: Freiheit zieht Verantwortung mit sich. Wenn Nutzer:innen in dezentralen Netzwerken Hassrede, Desinformation oder Gewaltaufrufe verbreiten, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Die Betreiber:innen von Instanzen müssen Governance-Modelle entwickeln, die einerseits sicherstellen, dass Nutzer:innen Inhalte melden und blockieren können, um sichere und gesunde Diskurse zu fördern — auch über Instanzen hinweg. Andererseits müssen Betreiber:innen gewährleisten, dass sie nicht für strafrechtlich relevantes Verhalten ihrer Nutzer haftbar gemacht werden können.
    4. Interoperabilität: Dezentrale Netzwerke müssen interoperabel sein, damit Nutzer:innen von verschiedenen Diensten miteinander kommunizieren können. Dies kann rechtliche Herausforderungen aufwerfen, aber echte Innovationen können hier Vorbildcharakter haben.
    5. Datenschutz: Dezentrale Netzwerke können die Privatsphäre und die Datensicherheit der Nutzer:innen besser garantieren, da sie nicht auf einen zentralen Server angewiesen sind, der von einem Unternehmen oder einer Regierung kontrolliert wird. Dies aber nur, wenn Daten- und Privatsphäreschutz von den Instanzen bewusst implementiert wird.
    6. Finanzierung: Dezentrale Netzwerke wie Mastodon werden oft von einer Gemeinschaft von Nutzer:innen getragen. Allerdings wirtschaften die meisten Instanzen (noch) nicht nachhaltig. Kleine Beitragsmodelle können Beispielcharakter haben. Diese könnten durch Förderung für zivilgesellschaftliche Beratungsstellen ergänzt werden, die Muster-AGBs und Richtlinien für Inhaltsmoderation zur Verfügung stellen.
    7. Zivilgesellschaftliches Engagement: Das Interesse gesellschaftliche Strukturen zu etablieren, die eine gemeinnützige, inklusive Gesellschaft auf Mastodon forcieren, ist in zahlreichen Debatten erkennbar. Gleichzeitig war in unseren Reflektionen deutlich, dass gesellschaftliche und wirtschaftliche Anreize zunächst im Analogen geschaffen werden müssen. Um sich freiwillig zu organisieren, braucht jede:r Zeit und finanzielle Sicherheit. Es fielen Stichworte wie die 4-Tage-Woche, das bedingungslose Grundeinkommen oder Zeitmodelle für zivilgesellschaftliches Engagement.
    8. Weiterbildung und Kompetenzausbau: Instanzen müssen bewusst an einer professionellen Inhaltsmoderation arbeiten und sicherstellen, dass bei der Regelbildung und -durchsetzung die Interessen und Bedürfnisse aller Nutzer:innen berücksichtigt werden. Hier können Schulungen oder Ressourcen für marginalisierte Gruppen helfen, ihre Stimme zu erheben und am Diskurs teilzunehmen.

    Der Zeitpunkt für eine Entwicklung des Fediverse mit mehr Mitgestaltung, Empowerment und Teilhabe ist jetzt – es liegt an uns, das Momentum für positive Impulse aktiv zu nutzen.

  • 3. Was gilt es noch über das Fediverse zu wissen?

    Im Folgenden findet sich eine Übersicht mit Leseempfehlungen rund um das Fediverse und damit verbundene Entwicklungen – wir nehmen auch gern weitere Hinweise entgegen.

    Eine Auseinandersetzung mit Hassrede und ob bzw. wie eine Sortierung nach Gemeinschaften polarisierend oder ausgleichend auf den öffentlichen Diskurs wirkt: Black Hole Musk: Was bedeutet Twitter 2.0 für den Hass im Netz? – Machine Against the Rage (bag-gegen-hass.net)

  • Teilnehmer:innen der Diskussion am 18. April 2023

    Impulsgebende

    • Elisa Lindinger, Superrr Lab
    • Christof Stein, Pressesprecher beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit

    Expert:innen

    • David Alders, Stiftung Mercator
    • Christina Dinar, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut
    • Maik Fielitz, Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, Jena
    • Stefan Kaufmann, Wikimedia
    • Katharina Klappheck, Heinrich-Böll-Stiftung
    • Paula Matlach, Institute for Strategic Dialogue
    • Jan-Hinrik Schmidt, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut
    • Felix Sieker, Bertelsmann Stiftung
    • Kai Unzicker, Bertelsmann Stiftung

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