Tartu, Hildesheim, und Leiden: Kaderschmieden für eine neue Generation von Desinformationsexperten?
Florian Bochert
Was haben das estnische Tartu, das deutsche Hildesheim und das niederländische Leiden gemeinsam? Alle drei sind Kleinstädte mit ungefähr 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Alle drei haben aber auch eine Universität, die einen Studiengang zur Eindämmung von Desinformationen anbietet. Während immer mehr Menschen die Gefahr von Desinformationen erkennen, bieten immer mehr Universitäten innovative Studiengänge an, die sich dem Umgang mit Desinformationen widmen. Ein genauerer Blick auf diese Studiengänge kann uns helfen, zu verstehen, warum es im Kampf gegen Desinformationen durchaus Hoffnung gibt.
Tartu und Hildesheim
Erst vor ungefähr einem Jahr startete die Universität Tartu ihren einjährigen Masterstudiengang Desinformationen und Gesellschaftliche Resilienz. Dieser Name lässt bereits erkennen, dass sich der Studiengang nicht nur mit der Manipulation von Informationen beschäftigt, sondern auch mit strategischer Kommunikation, Risikomanagement und dem Aufbau von gesellschaftlicher Resilienz. Eine Besonderheit des Studiengangs besteht darin, dass die Studierenden aus erster Hand vom estnischen Umgang mit Desinformationen aus Russland lernen können. Mit diesem sehr praktischen Ansatz richtet sich der Studiengang vor allem an Studierende aus Ländern, die selbst oft von Desinformationen bedroht werden. Daher werden Studierenden aus Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, Serbien, Ukraine und Usbekistan besondere Stipendien angeboten. Insgesamt werden pro Jahr nur 20 Studierende für den Studiengang zugelassen, was einen Studienplatz sehr begehrt macht.
Zum Glück gibt es in Europa aber auch noch andere Möglichkeiten, um den Umgang mit Desinformationen zu studieren. Die Universität Hildesheim bietet zum Beispiel Digitale Sozialwissenschaften als Studienvariante des dreijährigen Bachelors in Internationalem Informationsmanagement an. Als Kombination von Politikwissenschaften, Soziologie und Linguistik befasst sich dieser Studiengang mit Desinformationen aus verschiedenen Perspektiven und im Zusammenhang mit vielen anderen Themen. Zum Beispiel stellt der Studiengang auch die Frage, wie soziale Medien zur Verbesserung von politischer Kommunikation und zur Erleichterung von politischer Beteiligung genutzt werden können.
Leiden und der Rest von Europa
Das Nebenfach Desinformationen und Strategische Kommunikation in Globalen Medien an der niederländischen Universität Leiden zeichnet sich durch einen interdisziplinären Ansatz aus. Als Nebenfach besteht es aus fünf Kursen, von denen sich drei mit Desinformationen, Journalismus und Medien im globalen Kontext beschäftigen. Zusätzlich können sich Studierende für einen vierten Kurs entscheiden, der entweder Desinformationen in Europa oder in den USA behandelt, und für einen fünften Kurs, der entweder Desinformationen in Russland oder China in den Blick nimmt. Alle fünf Kurse befassen sich mit theoretischen Fragen, zum Beispiel was internationale und regionale Desinformationen verbindet. Gleichzeitig beleuchten die Kurse aber auch praktische Fragen, zum Beispiel wie Nachrichtenmeldungen erfolgreich verifiziert werden können.
Die drei hier beschriebenen Studiengänge sind sehr unterschiedlich. Einige legen einen starken Fokus auf praktische Themen wie die Schaffung von gesellschaftlicher Resilienz, andere haben eine eher theoretische Herangehensweise. Einige fokussieren sich auf bestimmte Regionen in der Welt, andere verfolgen einen globaleren Ansatz. Abgesehen von den hier genannten Beispielen gibt es aber noch viele weitere Studiengänge, die sich vermehrt auf strategische Kommunikation und auf andere Aspekte von Desinformationen konzentrieren – zum Beispiel in Schweden, Litauen, Portugal und England.
Viele Studiengänge – drei Erkenntnisse
Trotz dieser Vielfalt an Studiengängen lassen sich dennoch drei Erkenntnisse festhalten: Als Erstes wird deutlich, dass fast alle Studiengänge zu Desinformationen relativ neu sind. Die zunehmende gesellschaftliche Relevanz von Desinformationen zeigt sich langsam also auch in den Studienangeboten. Das zweite Fazit sollte sicherlich sein, dass sich alle Studiengänge zu Desinformationen sehr voneinander unterscheiden. Diese Vielfalt ist vermutlich damit zu erklären, dass Desinformationen als Problem sehr komplex sind und auf unterschiedliche Weise gelöst werden können. Gleichzeitig befinden sich einige europäische Länder im Hinblick auf Desinformationen in einem sehr unterschiedlichen, geopolitischen Kontext, was die Vielfalt an Studiengängen weiter erhöht.
Das dritte und vielleicht wichtigste Fazit ist aber, dass uns diese Vielfalt auch hoffen lassen kann. Während Russland und andere Staaten weiterhin Desinformationskampagnen lancieren, während sie unentwegt versuchen, unsere Gesellschaft zu polarisieren und unsere Wahlen zu beeinflussen, erkennen immer mehr Universitäten Desinformationen als Gefahr. Universitäten stellen sich schnell auf die neuen geopolitischen und technologischen Herausforderungen ein, entwickeln schnell neue Studiengänge zu Desinformationen und bilden so eine neue Generation von Desinformationsexpert:innen aus. Gleichzeitig tragen diese Universitäten durch ihre Forschung zu einem größeren gesellschaftlichen Problembewusstsein und zu einer besseren Vorbereitung bei. Je vielseitiger die Studiengänge desto mehr Herangehensweisen haben wir im Umgang mit Desinformationen. Daher werden Tartu, Hildesheim und Leiden hoffentlich nicht die letzten Kleinstädte gewesen sein, die einen Studiengang zum Umgang mit Desinformationen schaffen.