OSINT-Vorreiter Bellingcat: Vom Sofa aus die Welt verändern

Virginia Kirst

Highlight
Logo Bellingcat
Name
Bellingcat
Gründungsjahr
2014
Standort
Amsterdam, Niederlande
Mitarbeitende
40
Methodologie
Fact-Checking, Kommunikation & Medien, Verschwörungstheorien
Finanzierung
Spenden von Organisationen, Unternehmen und Privatpersonen, Einnahmen aus Workshops und aus der Produktion von journalistischen bzw. Unterhaltungsformaten

Das internationale Recherche-Netzwerk Bellingcat hat Open-Source-Ermittlungsmethoden mit seinen Untersuchungen zum MH-17-Absturz und dem Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg zu weltweiter Bekanntheit verholfen. Heute konzentriert sich die Organisation neben der bestmöglichen Verbreitung ihrer Rechercheergebnisse auf Bildungsarbeit und darauf, dass ihre Erkenntnisse auch vor internationalen Gerichtshöfen Bestand haben.


Bellingcat ist ein internationales Netzwerk für Investigativ-Recherchen, das der Internet-Aktivist Eliot Higgins 2014 gegründet hat. Die Organisation mit Sitz in Amsterdam ist weltweit für ihre Online-Ermittlungen bekannt, mit denen sie die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit geprägt hat.

So recherchierte Bellingcat etwa zum Waffeneinsatz im syrischen Bürgerkrieg, fand lange vor der öffentlichen Untersuchungskommission heraus, dass das MH-17-Passagierflugzeug über der Ostukraine von einem russischen Raketensystem abgeschossen worden war und identifizierte die Hauptverdächtigen des Giftanschlags auf den russischen Spion Sergei Skripal als Angehörige des russischen Geheimdienstes.

Die Spezialität von Bellingcat sind sogenannte OSINT-Recherchen: Das Verifizieren von Ereignissen und Fakten auf der Basis freizugänglicher Online-Quellen (Open Source Intelligence), wie etwa Handyfotos, Videos oder Satellitenbilder. Als Vorreiter auf diesem Gebiet hat Bellingcat dafür gesorgt, dass diese Methode heute von Redaktionen und Organisationen weltweit eingesetzt wird, um Online-Faktenchecks durchzuführen.

Einerseits, indem es seine Ermittlungen offengelegt und die Methoden damit überprüfbar und replizierbar gemacht hat, und gleichzeitig, indem es Organisationen und Redaktionen weltweit in ihrer Anwendung geschult hat. „Der Grund, warum heute so viele etablierte Organisationen Open-Source-Recherchen durchführen, ist, weil wir sie dafür ausgebildet haben“, bestätigt Gründer Higgins.

Die Bildungsarbeit ist bis heute zentral in der Arbeit von Bellingcat: Die Organisation veröffentlicht Anleitungen, wie OSINT-Recherchen durchgeführt werden können, und führt entsprechende Workshops und Medienbildungskurse auch in Schulden durch. Entsprechend definiert Bellingcat sich selbst als Recherche-Organisation, auch wenn sie von außen häufig eher in die journalistische Kategorie eingeteilt wird.

Zusammenarbeit mit Online-Netzwerk dank Zwiebelstruktur

Um die Arbeit der Organisation und ihre Struktur zu verstehen, muss man wissen, wie sie entstanden ist: Higgins gründete Bellingcat offiziell 2014 mit einer Crowdfunding-Finanzierung. Doch bereits vorher hatte er mit OSINT-Methoden aus seinem Wohnzimmer zum Waffeneinsatz im syrischen Bürgerkrieg recherchiert und die Resultate in seinem Blog veröffentlicht, dessen Inhalte von etablierten Medien aufgegriffen wurden. Schon damals arbeitete Higgins im Internet mit einem Netzwerk Gleichgesinnter zusammen, mit denen er sich über Quellen und Verifizierungsmethoden austauschte.

Diese Gemeinschaft ist bis heute erhalten geblieben und darin integriert worden, was Higgins als „Bellingcats Zwiebelstruktur“ bezeichnet: Den Kern von Bellingcat bilden heute 40 feste Mitarbeiter:innen. Zur nächstäußeren Schicht gehören regelmäßig Mitwirkende, die nicht angestellt sind. Das können einzelne Personen oder Partnerorganisationen sein, die Bellingcat bei der Planung von Projekten oder bei der Suche nach neuen Recherchethemen einbindet.

Darauf folgt eine Gemeinschaft organisierter Freiwilliger – derzeit 30 bis 40 Menschen – , die Bellingcat ausbildet und denen sie Aufgaben übertragt. Außerhalb dieser drei Schichten befindet sich die größere Netzgemeinschaft. Menschen also, die Bellingcat auf Social Media folgen oder auf Discord an Diskussionen teilnehmen, und sich so in Recherchen einbringen und Tipps abgeben.

Von der Recherche zur Fernsehserie und zur Gerichtsverhandlung

Diese Arbeitsweise erfordert und resultiert gleichzeitig in maximaler Transparenz: „Die Zusammenarbeit mit verschiedensten Organisationen und Freiwilligen ist möglich, weil wir mit Open-Source-Materialien arbeiten“, sagt Higgins. Niemand käme mit geheimen Quellen zu Bellingcat. Vielmehr verfügten alle Personen im Netzwerk über das gleiche Material, nutzten aber unterschiedliche Fähigkeiten und Wege, um zu Ergebnissen zu kommen und diese anschließend zu verbreiten.

Bellingcat selbst publiziert seine Rechercheergebnisse auf seiner Webseite und über seine Social-Media-Kanäle. Und, um seine Arbeitsweise und Erkenntnisse bekannter zu machen, veröffentlicht es auch Bücher, Dokumentarfilme, Podcasts und Streaming-Serien – oder verkauft die Rechte für entsprechende Produktionen. Bellingcats Medienpartner:innen verwerten die Recherchen in Artikeln und internationale Organisationen nutzen sie für ihre Zwecke – etwa für die Strafverfolgung vor internationalen Gerichtshöfen.

Gerade in letztem Bereich ist Bellingcat sehr aktiv: So hat die Organisation eine gemeinsame Einheit mit der Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network gebildet. Sie heißt „Justice & Accountability“, Gerechtigkeit und Rechenschaft, und dient dazu, Prozesse zu entwickeln, damit Bellingcats Open-Source-Rechercheergebnisse in internationalen Gerichtsverhandlungen als Beweismittel dienen können. Die Besonderheit dieser Abteilung ist, dass sie vom Rest der Organisation getrennt ist, eigene Kommunikationskanäle nutzt und die dort beschäftigten Mitarbeiter:innen nicht in anderen Bereichen eingesetzt werden.

Vorhandene Informationen in nützliche Fakten verwandeln

Welchen Recherchen Bellingcat sich annimmt, bestimmt seine Strategie. Higgins erklärt: „Es geht darum, Ereignisse zu erkennen, bei denen Informationen auftauchen, und diese dann in verlässliche Fakten zu verwandeln, die von verschiedenen Akteuren genutzt werden können.“ Dabei verstehe Bellingcat sich nicht als Endpunkt des Prozesses, sondern als Teil davon: „Die Fakten, die wir so produzieren, können für viele Menschen sehr hilfreich sein“, sagt Higgins.

Dabei spielen auch Bellingcats Expertise und Kapazitäten eine Rolle. Die Organisation hat Teams, die auf verschiedene Themen spezialisiert sind. Das sind neben Recherchen zu Kriegen und Konflikten vor allem Verschwörungstheorien, rechtsextreme- und MAGA-Netzwerke aber auch KI-generierte Pornografie und Deep Fakes. Ist das entsprechende Team verfügbar, kann eine neue Recherche in dem Bereich beginnen.

Gleichzeitig achtet Bellingcat darauf, mit seinen Recherchen möglichst viele Weltregionen abzudecken. Derzeit liegt sein Schwerpunkt auf dem globalen Süden, insbesondere Afrika und Lateinamerika, damit dort keine Wissenslücke beim Thema OSINT zum Rest der Welt entsteht. Denn, so Higgins: „Die Menschen im globalen Süden haben Rechenschaft genauso verdient wie die Menschen in Europa und den USA.“

Wie Bellingcat als Vorbild dienen kann

Schon heute gilt Bellingcat weltweit als großes Vorbild dafür, wie OSINT-Recherchen niedrigschwellig eingesetzt werden können, um Desinformation zu bekämpfen. Gerade sein Bestreben, das Wissen über diese Recherchemethoden an so viele Menschen und Organisationen wie möglich weiterzugeben, ist positiv hervorzuheben. Bemerkenswert ist außerdem, dass Bellingcat sich als Organisation weiterentwickelt und sich nicht auf seinen vergangenen Erfolgen ausruht, beziehungsweise bei bekannten Themen bleibt. Dafür steht die „Justice & Accountability“-Abteilung sowie die Aufmerksamkeit für den globalen Süden.


Virginia Kirst

Virginia Kirst

Freie Journalistin

Ich arbeite als freie Journalistin zwischen Rom und Hamburg. Meine Spezialität ist, die römische Politik zu entwirren und zu zeigen, welche Folgen sie haben wird – für Berlin, Bern, Brüssel und Wien. Als Auslandskorrespondentin schreibe ich Analysen, Berichte, Interviews und Reportagen für Zeitungen, Magazine und Webseiten. Außerdem berichte ich im Live-Fernsehen über aktuelle Ereignisse und werde als Italien-Kennerin ins Fernsehen, ins Radio und zu Podcasts eingeladen.

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