Desinformationen den Geldhahn zudrehen
Virginia Kirst
Der Global Disinformation Index (GDI) veröffentlicht einen Ausschluss-Index für Webseiten, die besonders viele Desinformationen verbreiten. Dank des Index können Werbetreibende vermeiden, dass ihre Marken in einem negativen Umfeld auftauchen und der GDI legt gleichzeitig das Geschäftsmodell ebenjener Webseiten trocken.
2016 staunten zwei Menschen auf unterschiedlichen Kontinenten über die irrationalen Entscheidungen ihrer Mitbürger:innen: Clare Melford schaute im Vereinigten Königreich ungläubig zu, wie eine Mehrheit für den Brexit stimmte – obwohl klar war, dass er die Wirtschaft schwächen würde. Zeitgleich wunderte sich Daniel Rogers in den USA über die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten – obwohl sie das Land unsicherer machen würde.
„Die Informationssysteme, insbesondere jene im Internet, spiegelten die Realität nicht mehr korrekt wider.“
„Menschen stimmen doch normalerweise nicht für etwas, das sie ärmer oder unsicherer macht“, erklärt Melford heute ihre damalige Verwunderung. Rogers und sie sahen den Grund für diese Wahlergebnisse in den gestörten Informationssystemen ihrer Länder, und darin, wie diese in der politischen Meinungsbildung zunehmend als Waffe eingesetzt wurden. „Die Informationssysteme, insbesondere jene im Internet, spiegelten die Realität nicht mehr korrekt wider“, sagt Melford.
Da sie damals als Managerin in der Medienbranche arbeitete, war ihr die Ursache klar: Medienunternehmen verdienen Geld mit Aufmerksamkeit. Je länger die Zuschauer:innen bei ihrem Angebot bleiben, desto mehr verdienen sie mit der Platzierung von Werbung. Daher werden sie immer die fesselndsten Nachrichten vorrangig verbreiten – und das sind typischerweise wütende und polarisierende Inhalte, denn sie binden die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen am längsten.
„Follow the money“
„Die Verzerrung des Informationssystems ist ein eingebauter Fehler im Geschäftsmodell der Technologieunternehmen“, sagt Melford. Um ihn zu beheben, sah sie nur eine Lösung: Follow the money – dort ansetzten, wo das Geld herkommt. Und da es für die meisten Werbetreibenden nicht attraktiv ist, in einem von verzerrten Nachrichten geprägten Umfeld aufzutauchen, bauten Melford und Rogers den Global Disinformation Index (GDI) auf – ein unabhängiger Index, der Webseiten auf ihr Risiko überprüft, Desinformation zu verbreiten.
„Mit dem GDI helfen wir Werbetreibenden dabei zu verhindern, dass ihre Werbung auf Webseiten auftauchen, deren Inhalte nicht zu ihren Unternehmenswerten passen und so Narrative zu vermeiden, die realen Schaden anrichten können“, sagt Melford. Während sie die Branchenkenntnis einbrachte, stellte Rogers den GDI auf eine solide Technologiebasis.
„Indem wir für unsere Daten Geld verlangen, können wir sicher sein, dass wir etwas produzieren, das die Unternehmen wollen.“
2018 begannen sie die Arbeit am GDI und keine zwei Jahre später belegten die ersten zahlenden Kunden die Relevanz ihres Angebots. Bis heute verkauft die Organisation ihre Daten und Forschungsergebnisse, obwohl sie diese als gemeinnützige Organisation auch kostenlos zur Verfügung stellen könnte. Doch: „Indem wir für unsere Daten Geld verlangen, können wir sicher sein, dass wir etwas produzieren, das die Unternehmen wollen“, sagt Melford.
Das Hauptprodukt des GDI ist heute ebendieser Ausschluss-Index. Er umfasst derzeit rund 3.500 Webseiten, bei denen der GDI davon ausgeht, dass kein Werbetreibender auf ihnen auftauchen möchte. Die Liste entsteht, indem das vom GDI entwickelte Large Language Model (LLM) Webseiten automatisch auf die Feindseligkeit ihres Inhalts prüft – also darauf, ob dieser dazu gemacht ist, negative Emotionen bei den Leser:innen zu schüren.
Ausschluss-Index, OSINT-Hub und Policy-Arbeit
Auffällige Webseiten werden vom GDI-Team beurteilt. Wer auf dem Index landet, entscheidet also ein Mensch. Der GDI schätzt, dass die Werbeeinnahmen von stark desinformierenden Webseiten in den vergangenen drei Jahren um insgesamt rund 200 Millionen US-Dollar zurückgegangen sind. Dieser Erfolg gehe zwar nicht allein auf das Konto des GDI, sagt Melford. Doch er habe dazu beigetragen: „Auch, indem wir die Werbetreibenden für das Thema sensibilisiert haben.“ Dieser Erfolg zeige, dass Werbetreibende keine Inhalte finanzieren wollen, die ein hohes Desinformations-Risiko haben, glaubt Melford.
Neben dem Desinformations-Index betreibt der GDI auch den sogenannten OSINT-Hub, eine Abteilung, die auf der Basis von Open-Source-Quellen Fakten über aufkommende Desinformations-Trends und Extremismus im Internet sammelt und analysiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem regionalen Kontext der Narrative. Die Abteilung identifiziert potenzielle neue Einträge für den Ausschluss-Index und neue Desinformations-Narrative für das Large Language Model. Außerdem verfasst sie Berichte über ihre Erkenntnisse, die sie an Partner:innen und Kund:innen weltweit, wie Regierungen, Organisationen, Technologie- und Medienunternehmen weitergibt.
Den dritten Pfeiler des GDI macht das „Policy and Advocacy“-Team aus, das bemüht ist, Regierungen und politische Entscheidungsträger:innen weltweit über die treibenden Kräfte hinter Desinformations-Trends aufzuklären. „Regierungen und politische Entscheidungsträger:innen auf der ganzen Welt müssen eine Rolle bei der Regulierung und Reformierung der Werbeindustrie und Technologieunternehmen spielen, um Desinformation und den Schaden, den sie anrichtet, zu bekämpfen“, sagt Melford.
Denn derzeit täten die Technologie-Unternehmen nur, wozu sie gedacht seien: Möglichst viel Geld für ihre Anteilseigner:innen zu verdienen. Ein Erfolg des GDI in diesem Bereich ist laut Melford, dazu beigetragen zu haben, dass der Fokus des Digital Services Acts (DSA) der Europäischen Kommission und insbesondere des Code of Practice auf der Demonetarisierung von Angeboten liegt, die Desinformationen verbreiten.
Wie der Global Disinformation Index als Vorbild dienen kann
Die Arbeit des GDI ist effektiv, weil sie vom „Follow the money“-Ansatz getrieben ist. Tatsächlich geht die starke Verbreitung von Desinformation im Internet darauf zurück, dass sich damit teils einfach Geld verdienen lässt, leichter als mit korrekten Informationen, weil sie die Aufmerksamkeit der Menschen über Emotionen stärker bindet. Der GDI erleichtert es den Werbetreibenden, diesen Fehler im System zu umgehen, indem er Webseiten ausweist, die besonders für die Verbreitung von Desinformation bekannt sind. Vorbildlich ist, dass der GDI auch im Policy-Bereich aktiv ist und seine Daten und Forschungsergebnisse Regierungen, Entscheider:innen und Gesetzgeber:innen zur Verfügung stellt, damit diese Desinformation möglichst informiert bekämpfen können.