Die Utopie(n) der digitalen Diskursräume
Dr. Kai Unzicker
Die digitale Öffentlichkeit war ein Versprechen. Sie sollte Austausch, Vernetzung und Verständigung mit sich bringen. Nach gut zwei Jahrzenten mit sozialen Medien und mitten in einem KI-Hype ist die Ernüchterung groß: Polarisierung, Hass und Desinformationen haben die digitalen Diskursräume geflutet. Aber was können wir tun, um sie zu heilen? Nach zwei Jahren Upgrade Democracy zeigen wir hier die Wege auf, die zu gesunden digitalen Diskursräumen führen können.
Die anfängliche Hoffnung war groß: Durch die globale Vernetzung und den Zugang zu Informationen sollte eine Ära der Vernunft und Verständigung anbrechen. Und ja, digitale Kommunikation hat die Welt tatsächlich verändert und immer wieder bewiesen, dass sie das Potential besitzt, diese Hoffnungen zu erfüllen. Hätte es den Arabischen Frühling, #MeToo, #MashaAmini oder FridaysForFuture ohne eine globale digitale Öffentlichkeit, mit sozialen Medien und Messenger-Diensten, in dieser Form jemals gegeben? Wie schnell könnten wir uns über das Wissen der Welt informieren, ohne die Hunderttausenden Freiwilligen, die es jeden Tag in die Wikipedia eintragen – kostenlos, mehrsprachig und in ständiger kritischer Reflexion? Wie viele Prüfungen und Do-it-yourself-Reparaturen würden misslingen, ohne die Unterstützung aus unzähligen YouTube-Videos? Keine Frage, die digitalisierte Welt hat auch ihre guten Seiten.
Während das 20. Jahrhundert von Massengesellschaften geprägt war, in denen Massenmedien (few-to-many) massenpolitisch wirksam waren, erleben wir im 21. Jahrhundert eine Ära der digitalen, individualisierten, dezentralen Onlinekommunikation, in der jede zugleich Sender:in und Empfänger:in sein kann (many-to-many). Diese radikale Demokratisierung der Öffentlichkeit hat zu mehr Sichtbarkeit und Ermächtigung zuvor marginalisierter Gruppen geführt. Doch zugleich hat sie auch eine Radikalisierung der demokratischen Öffentlichkeit nach sich gezogen. Wo jeder eine Stimme hat und über Verstärker verfügt, entsteht selten ein harmonischer Chor, sondern meist eine Kakophonie unterschiedlicher Lieder und Stimmlagen. Die Unmittelbarkeit der Kommunikation in sozialen Medien fördert Affekte und Verzerrungen, die sich viel stärker durchsetzen als in traditionellen, redaktionell kuratierten Medien.
Digitale Kommunikation und digitale Öffentlichkeit, vor allem verstanden als die Öffentlichkeit der gewinnorientierten Social-Media-Plattformen und ihrer Logik der Aufmerksamkeitsökonomie, erscheint somit zunehmend dysfunktional und demokratiegefährdend. Aber muss das so sein? Was wäre eine realistische Vorstellung davon, wie eine digitale Öffentlichkeit gestaltet sein könnte, die leistungsfähig ist, Menschen verbindet, konstruktive Diskurse ermöglicht und zu mehr Verständigung, statt zu mehr Spaltung beiträgt? Es ist offensichtlich, dass es hierbei nicht darum gehen kann, die Utopie eines rationalen, herrschaftsfreien sowie zivilisierten digitalen Diskurses zu realisieren. Zu sehr haben die letzten zwei Jahrzehnte gezeigt, wie schwierig dies ist. Jedoch, was wäre eine wünschenswerte Verbesserung des aktuellen Zustands, die mit den tatsächlich vorhandenen Akteuren (Unternehmen, politischen Institutionen, Nutzer:innen) zu erreichen wäre? Eine genaue Problemanalyse ist notwendig, um am Ende aufzuzeigen, welche Maßnahmen geboten sind, um diese Verbesserung herbeizuführen.
Die Akteur:innen – Das Informationsökosystem ist aus dem Gleichgewicht
Es wäre zu einfach, die Schuld an der Misere des digitalen Diskurses leichtfertig einer oder einem einzelnen Akteur:in zuzuschreiben. Verantwortlich sind weder allein das Gewinnstreben der Big-Tech-Konzerne, die die Kommunikationsplattformen betreiben, noch die Politik, die das vermeintliche „Neuland“, trotz ständiger Beteuerungen, es sei kein rechtsfreier Raum, einfach nicht in den Griff bekommt. Auch autoritäre Regime oder Extremist:innen im In- und Ausland tragen nicht allein die Schuld am Zustand des digitalen Diskurses. Ebenso wenig liegt es allein an der menschlichen Psyche, die zwangsläufig zu den schlimmsten Verwerfungen in der Online-Kommunikation führt.
Tatsächlich ist es das toxische Zusammenspiel all dieser Akteur:innen, mit ihren jeweiligen Intentionen, Handlungen, Reflexen und Mechanismen, das den aktuellen Zustand erzeugt. Das Informationsökosystem, also all jene Teile, die nur gemeinsam existieren können und den öffentlichen Diskursraum erzeugen, befindet sich in einer Dysbalance. Für Tech-Unternehmen ist die Zeit, die Nutzer:innen auf ihren Plattformen verbringen, geldwert. Darum haben sie ihre Algorithmen auf dieses Ziel hin optimiert. Im Newsfeed reiht sich ein Beitrag an den anderen, neuen Inhalten werden nach Vorlieben vorgeschlagen, und das Versprechen lautet stets, hinter jedem Wischen oder Klicken warte die bessere Unterhaltung, die größere Überraschung, die neuere Nachricht oder der skandalösere Aufreger. Es ist wie mit zuckersüßen Leckereien oder fettigen Chips: Hat man einmal angefangen, fällt es schwer, aufzuhören. Nur geht es hier um Emotionen, nicht um Zucker oder Fett. Alles, was Emotionen auslöst, funktioniert. Mag der Mechanismus an sich schon problematisch sein, so wäre es fast egal, wenn es nur um Spaß, Unterhaltung oder Sex ginge. Aber – und damit wären wir bei skrupellosen und mitunter böswilligen Akteur:innen, die den Mechanismus schnell verstanden und für ihre Zwecke genutzt haben – Angst, Wut, Neid und Gier funktionieren als Treibstoff in den sozialen Medien noch viel besser.
“Someone is wrong on the internet” oder 90, 9, 1
Unter diesen Bedingungen ist Verständigung, zivilisierter Austausch oder konstruktive Debatte schwer möglich. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, dass der digitale Diskurs die gesamte öffentliche Meinung abbildet. Eine Zeitlang gab es den Reflex, aus den Trending-Topics bei Twitter (heute X) oder einzelnen Postings ein allgemeines Stimmungsbild herauszudeuten. Vermutlich jedoch war das in Online-Communities gängige 90, 9, 1-Schema zutreffender. Auch wenn jeder das Potenzial hat, aktiv an der digitalen Öffentlichkeit teilzunehmen, machen nur die wenigsten davon Gebrauch. Der Daumenregel nach sind 90 Prozent der Nutzer passiv. Rund 9 Prozent beteiligen sich aktiv, durch Kommentare oder Formen des standardisierten Engagements wie Liken, Teilen usw. Für die eigentlichen Inhalte sind aber nur sehr wenige, etwa 1 Prozent der Nutzer:innen verantwortlich. Diese haben oft eine klare Position. Ein berühmtes Meme von XKCD zeigt dies treffend: Die 1 Prozent Inhaltsproduzent:innen und die 9 Prozent, die interagieren, tun dies meist aus dem Impuls der starken Zustimmung oder – womöglich häufiger – der vehementen Ablehnung heraus. Das Meme zeigt ein Strichmännchen, das nicht schlafen gehen will, weil es noch wichtige Dinge zu tun hat – „Someone is wrong on the internet.“
Dies führt dazu, dass Diskussionen in den sozialen Medien oder den Kommentarbereichen von Nachrichtenwebsites eher polarisieren und den Konflikt befeuern, statt durch den Austausch von Argumenten konstruktiv zu wirken. Artikel, Postings, Videos und Kommentare erhalten mehr Aufmerksamkeit, je stärker sie eine emotionale Reaktion auslösen. Die Debatten erscheinen dadurch online polarisierter, konfliktreicher und emotionaler, als sie gesamtgesellschaftlich und analog geführt werden.
Weniger Berichterstattung und ganz viel Meinung
Wer unter diesen Bedingungen Reichweite erreichen will, ob als private:r Nutzer:in, halb- oder vollprofessioneller Content-Creator oder als Medienunternehmen, kann auf Zuspitzung, Emotionalisierung und kontroverse Meinung setzen. Aus dem Potenzial, umfassende transparente Informationen und Hintergründe zu erfahren, wird schnell die Realität der meinungsstarken Kommentierung und Einordnung. Dabei geht auch oft das Maß dafür verloren, was tatsächlich Fakten und was Meinungen sind. Lautstark wird dann für Meinungsfreiheit getrommelt, und damit ist häufig aber nur gemeint, ungestört und ohne Widerspruch behaupten zu dürfen, was man will: etwa dass Chlorbleiche gegen Covid hilft, dass Wirtschaftseliten die Bevölkerung austauschen wollen oder dass der Klimawandel eine Lüge sei.
Gespaltener Nachrichtenkonsum?
Vom Trend zu meinungsstarken und emotionalen Inhalten sind auch redaktionelle Medien nicht ausgeschlossen. Traditionell hat der Journalismus mit all seinen Standards und ethischen Regeln vornehmlich die Aufgabe, aus der unendlichen Menge an berichtenswerten Dingen auszuwählen, was wichtig und was unwichtig ist. Dazu gehört seit jeher auch die Einordnung und Deutung der Lage der Welt in Kommentaren und Meinungsstücken. Aber je mehr auch Redaktionen und Verlagshäuser unter Druck geraten, desto mehr sind sie verleitet, der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie zu folgen. Clickbait, Emotionalisierung und immer stärkere Zuspitzung sind die Folge. Zwar sind diese Phänomene im Journalismus nicht neu (Stichwort „Boulevard“), aber sie breiten sich dennoch immer weiter aus. Und dort, wo es gelingt, erfolgreich Digitalabos zu verkaufen, findet der hochwertige Qualitätsjournalismus, der nun auf eine solide Finanzierung angewiesen ist, hinter Paywalls statt. So droht eine zusätzliche Spaltung zwischen denen, die sich redaktionell kuratierte Nachrichten leisten können, und jenen, die sich mit kurzen Schnipseln und dubiosen Websites arrangieren müssen. Für einige nationale oder gar internationale Qualitätsmedien wird es mit Sicherheit auch in Zukunft tragfähige Geschäftsmodelle und interessierte Konsumenten geben, aber ob dies in der Breite der Lokal- und Regionalmedien gelingt, bleibt offen.
Der nächste Schritt: KI-generiert und personalisiert
Während Nachrichtenmedien noch nach Wegen der ökonomischen Verwertung ihrer Inhalte im Internet suchen, sind Tech-Unternehmen hier bereits einen Schritt weiter. Statt den journalistischen Angeboten Reichweite zu bieten, spielen sie mit Mitteln und Wegen, nachrichtlichen Inhalt unmittelbar weiterzugeben. KI kann ihren Nutzer:innen personalisierte Nachrichten – je nach Interesse, Wohnort oder Tageszeit – direkt in die Timeline oder Suchanfrage spielen. Woher die Informationen stammen, ob sie von Journalisten recherchiert wurden und ob man dabei die gleichen Nachrichten oder denselben Spin erhält wie die eigene Nachbar:in, lässt sich kaum noch nachvollziehen. Zumal den algorithmisch gesteuerten sozialen Medien der soziale Aspekt sukzessive abhandenkommt. Es ist somit weniger das eigene Netzwerk, das die Weltsicht prägt, sondern an die Stelle einer Vielzahl journalistischer Gatekeeper droht nun eine kleinere Anzahl technologischer Gatekeeper zu treten, die Nachrichten und Informationen vermitteln und dabei womöglich weniger an deren gesellschaftlichem Wert als an deren Geschäftspotenzial interessiert sind. Hier droht eine weitere Gefahr für den Zustand des öffentlichen Diskurses.
Wie der digitale Diskursraum beruhigt werden kann
All das bedeutet jedoch nicht, dass nichts getan werden könnte. Der aktuelle Zustand der digitalen Öffentlichkeit ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Akteure, und hier können auch Änderungen angreifen. Ein zentraler Schritt wäre, die Plattformbetreiber, die diese digitalen Räume in weiten Teilen beherrschen, stärker in die Pflicht zu nehmen. Plattformen müssen reguliert und die Regeln, unter denen sie ihre Algorithmen einsetzen, transparent und überprüfbar gemacht werden. Der europäische Digital Services Act liefert hierfür die ersten Werkzeuge. Dies allein wird aber nicht ausreichen. Es braucht weitere politische Maßnahmen, um den Einfluss von Desinformation, gezielter Polarisierung und böswillige:r Akteur:innen zurückzudrängen. Dies könnte durch die Unterstützung von unabhängigen Faktenchecker:innen und Bildungseinrichtungen geschehen, die Medienkompetenz fördern.
Auch die Medien selbst sollten Verantwortung übernehmen. Dazu gehört, sich auf ihre ethischen Standards zu besinnen und widerstandsfähig gegen die Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie zu bleiben. Journalistische Qualität darf nicht dem schnellen Klick geopfert werden. Letztlich müssen auch die Nutzer:innen selbst Verantwortung tragen. Es ist wichtig, kritisch zu hinterfragen, welche Inhalte wir konsumieren und wie wir selbst zur Qualität des Diskurses beitragen.
Diese Maßnahmen sind zwar nicht erschöpfend, aber sie stellen wichtige Schritte dar, um den digitalen Diskursraum zu stabilisieren. Sie erfordern ein Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – denn nur gemeinsam kann es gelingen, den digitalen Raum zu einem Ort des Austauschs, der Verständigung und der demokratischen Teilhabe zu machen.
Denn eines ist klar: Eine Demokratie braucht eine Öffentlichkeit, in der kritischer Diskurs und politischer Streit möglich sind. Zugrunde geht sie aber, wenn die Öffentlichkeit von Hass, Verschwörungstheorien und gezielter Manipulation geflutet ist.
Zum Weiterlesen und Vertiefen
- Digital Turbulence: Challenges facing Democracies in Times of Digital Turmoil
- Social Media and Democracy. The State of the Field and Prospect for Reform
- Truth Decay and National Security. Intersections, Insights, and Questions for Future Research
- Generative Artificial Intelligence and Political Will-Formation
- Digital Discourses and the Democratic Public Sphere 2035