Die Technologie hinter der Wahrheit: Aos Fatos und der Kampf gegen Desinformation in Brasilien
Virginia Kirst
Aos Fatos ist Mitglied des International Fact-Checking Networks (IFCN) des Poynter Instituts.
Aos Fatos ist eine journalistisch geprägte Fact-Checking-Organisation, der eine große Prise Technologie zum Erfolg verhilft.
Aos Fatos, auf Deutsch „zu den Fakten“, ist ein brasilianisches Fact-Checking-Startup, das von den Investigativ-Journalist:innen Tai Nalon, Rômulo Collopy und Carol Cavaleiro gegründet wurde. Es widmet sich der Überprüfung von Fakten und der Untersuchung von Desinformations-Kampagnen. Die Besonderheit von Aos Fatos liegt in seinem technologiegetriebenen Ansatz: Das Team entwickelt selbst Programme und setzt dabei immer häufiger auf künstliche Intelligenz, um den Journalist:innen ihre Arbeit zu erleichtern und diese Lösungen an Dritte zu verkaufen, um finanziell unabhängig zu sein.
Den Grundstein für Aos Fatos legte ein Crowdfunding im Jahr 2015, das von internationalen Fact-Checking-Projekten wie dem argentinischen Chequeado, PolitiFact vom Poynter Institute und dem Fact Checker der Washington Post inspiriert war. Die Gründung fiel damit in die Anfangszeit der Desinformationswelle, die mit dem Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump die ganze Welt überrollte. So war Aos Fatos gewappnet, als Jair Bolsonaro Ende 2018 mit Trump-Methoden den brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf gewann.
Aos-Fatos-Mitgründerin Nalon erklärt in einem Interview mit dem Global Investigative Journalism Network, dass die Siege von Trump und Bolsonaro entschieden zum Erfolg und Wachstum von Aos Fatos beigetragen haben, weil Fact-Checking-Organisationen plötzlich über den Journalismus hinaus an Bedeutung gewonnen haben.
Radar Aos Fatos: Desinformations-Scanner
Ein zentraler Erfolgsfaktor von Aos Fatos sind die Investitionen in Technologie und das Team von Programmierer:innen, das sie umsetzt. So bietet Aos Fatos seit 2020 das Produkt Radar an. Das Programm überwacht portugiesischsprachige Medien und Social-Media-Plattformen in Echtzeit, um verbreitete Desinformations-Narrative zu identifizieren. Dafür durchsucht der Algorithmus diverse offene Social-Media-Plattformen, Gruppen und Channels, aber auch große WhatsApp- und Telegram-Chats auf der Suche nach Schlagworten oder linguistischen Mustern, die für Desinformations-Kampagnen typisch sind. Grundsätzlich überwacht Aos Fatos Radar nur öffentliche Chat-Gruppen, wobei es private Gruppen-Chats dann einbezieht, wenn deren Eigentümer einen Einladungslink öffentlich geteilt haben, weil sie als Diskussionsforen für Personen dienen, die sich nicht kennen.
Das Programm erkennt auch, ob sich dieselbe Desinformation über mehrere Netzwerke und Apps verbreitet und wie sich die Verbindung entwickelt. Radar gibt den Journalist:innen bei Aos Fatos damit in Echtzeit einen Überblick darüber, welche Desinformations-Narrative im Land oder in einer Region zirkulieren. Anschließend überprüfen und analysieren die Journalist:innen die Ergebnisse, die Radar ihnen liefert, und nutzen sie, um Artikel und Berichte über Desinformations-Trends zu schreiben.
Ein weiteres Produkt, das Aos Fatos entwickelt hat, ist der Chatbot FàtimaGPT. Er funktioniert via WhatsApp und Telegram und dient dazu, Daten zu zirkulierenden Desinformationen zu sammeln und die Nutzer:innen darüber aufzuklären. Aos Fatos hat Fàtima während der Corona-Pandemie entwickelt, um mit der Häufung an Anfragen aus seiner Community fertig zu werden. Seitdem ist der Chatbot mit der künstlichen Intelligenz von ChatGPT weiterentwickelt worden: Gab Fàtima noch vorprogrammierte Antworten auf eine Stichwortsuche, ist FàtimaGPT eine semantische Suchmaschine, die eigenständig natürlich klingende Antworten formuliert, die auf den Informationen von Aos Fatos‘ vergangenen Fakten-Checks basieren. Laut Aos Fatos konnten die Programmierer:innen das Halluzinationsproblem von ChatGPT damit lösen, indem sie FàtimaGPT ausschließlich mit Informationen aus ihrer eigenen Datenbank trainiert haben.
Ziel: Finanzielle Unabhängigkeit
Das dritte Produkt von Aos Fatos ist die Transkriptionssoftware Escriba, die die Programmierer:innen speziell für den portugiesischsprachigen Markt perfektioniert haben. Mithilfe von Escriba konnte das Aos-Fatos-Team den Großteil von Bolsonaros öffentlichen Aussagen während des Wahlkampfes festhalten und überprüfen. Aos Fatos nutzt Escriba aber auch, um Geld zu verdienen: So können Unternehmen und Privatpersonen die Software abonnieren, um Sprach- und Videodateien zu transkribieren.
Über die Jahre hat Aos Fatos seine unternehmerischen Tätigkeiten erweitert, um finanzielle Unabhängigkeit für sein Kerngeschäft – die journalistischen Faktenchecks – zu erreichen. So verkauft es neben den Escriba-Abos auch die Monitoring-Berichte, die es mit der Hilfe von Radar erstellt. Hinzu kommen Fact-Checking-Partnerschaften mit den Social-Media-Plattformen Meta, Kwai und Telegram.
Kürzlich hat das Projekt „Golpeflix“ Aos Fatos viel Aufmerksamkeit eingebracht. Es handelt sich dabei um einen „digitalen Katalog der Lügen, die zum Aufstand am 8. Januar 2023 geführt haben“, bei dem über dessen Niederlage frustrierte Bolsonaro-Anhänger öffentliche Gebäude in der Hauptstadt Brasília angegriffen haben. Auf der Golpeflix-Webseite hat das Team ein Exposé der digitalen Agitation zusammengestellt, die Extremisten auf den Social-Media-Plattformen während der Wahl 2022 durchgeführt haben. Das Besondere an Golpeflix ist, dass es nicht nur die digitalen Lügen und den Hass dokumentiert, die zu den Ausschreitungen geführt haben, sondern auch, wie die „verzerrten Algorithmen“ der Apps und Plattformen zu ihrer Verbreitung beigetragen haben.
Wie Aos Fatos als Vorbild dienen kann
Die Mischung aus technologischen Lösungen und Geschäftssinn macht Aos Fatos in der internationalen Fact-Checking-Szene zu einem Vorbild. Denn mit ihr macht die Organisation vor, wie eine zivilgesellschaftliche Organisation mit ihrem Wissen und ihren Produkten nicht nur die eigene Arbeit effizienter gestalten und damit mehr Menschen erreichen kann. Gleichzeitig verdient Aos Fatos mit seinen Lösungen Geld, so dass die Organisation langfristig und unabhängig finanziert ist.