Fünf Zukunftstrends und wie wir sie gestalten können
Prof. Dr. Thorsten Thiel, Dr. Susanne Kailitz
Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft und die Demokratie. Dieser Befund scheint unstrittig – aber auch uneindeutig. Denn was heißt das konkret? Digitale Technologien haben zweifellos die Art verändert, in der Menschen kommunizieren. Wir gelangen heute schneller und umfassender als noch vor wenigen Jahren an Informationen, wir vernetzen uns über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Die gesellschaftlichen Räume sind vielfältiger geworden, weil die Debatten nicht länger nur in der analogen Welt stattfinden, sondern auch im digitalen Raum. Das führt dazu, dass mehr Menschen teilhaben (können) – und ließ in vielen die Hoffnung wachsen, die Demokratie werde von diesen neuen Entwicklungen immens profitieren: weil die Verwaltung leistungsfähiger, die Politik transparenter und die Teilhabe von Menschen insgesamt umfassender und fairer gestaltet werden würde.
Dem steht heute jedoch oft der Eindruck gegenüber, das Internet berge durch das Oligopol großer Technologiekonzerne, umfassende Überwachungs- und Manipulationsmöglichkeiten und eine wachsende Aggressivität im digitalen Diskurs vor allem eins: Risiken. Häufig scheinen Ängste vor technologischen Neuerungen oder Sorgen über den Einfluss von sozialen Medien zu dominieren – und immer häufiger lesen wir von Gefahren für die Demokratie, die sich in der digitalisierten Öffentlichkeit auftun. Einige sind inzwischen davon überzeugt, dass insbesondere die sozialen Medien das Funktionieren der Demokratie beschädigen bzw. den Vertrauensverlust in die repräsentative Demokratie und deren Institutionen beschleunigen.
Fünf Schlaglichter auf Herausforderungen der Zukunft
Doch wie werden Digitalisierung und Demokratie in der Zukunft aufeinander wirken? Wird ein Mehr oder Weniger an Technologie Auswirkungen auf Qualität und Widerstandsfähigkeit der Demokratie haben? Wie wirken neue Technologien auf die politische Entscheidungsfindung, auf den öffentlichen Diskurs und die politische Betätigung von Menschen? Werden technologische Entwicklungen, die wir heute vielleicht noch gar nicht wirklich kennen, morgen beeinflussen, wie Gesellschaft sich politisch organisiert und wie Individuen sich in dieser verhalten? Diesen Fragen wollen wir in der Reihe „Visions: Demokratie und Technologie“ nachgehen. Es geht dabei nicht darum, aktuellen Diagnosen neue Schattierungen abzugewinnen. Stattdessen wollen wir in einer Serie einzelner, in beliebiger Reihenfolge zu lesender Steckbriefe neue digitaltechnologische Herausforderungen der Demokratie beleuchten.
Künstliche Intelligenz, digitale Identitäten, künstliche Welten und digitale Infrastruktur
Wir haben die Themen für diese Reihe in erster Linie danach ausgewählt, wie naheliegend eine technologische Entwicklung insgesamt ist und ob sie unmittelbar politische Auswirkungen hat oder haben kann. Gesellschaftlich durchaus wichtige Zukunftstrends wie Roboter oder selbstfahrende Autos haben wir deshalb nicht in die Betrachtung einbezogen, sondern unseren Blick auf Themen mit einer naheliegenden Verbindung zu verschiedenen demokratiebezogenen Aspekten gerichtet. Zudem orientiert sich die Auswahl daran, wie wirkmächtig ein Trend in der Gegenwart eingeschätzt wird.
Wir werden daher sukzessive zu folgenden fünf Themen Texte veröffentlichen:
- Teil 1: Generative künstliche Intelligenz und politische Willensbildung
- Teil 2: Analytische künstliche Intelligenz und Repräsentation
- Teil 3: Digitale Identität und Bürgerrechte
- Teil 4: Virtuelle Welten und Teilhabe
- Teil 5: Digitale Infrastruktur und Souveränität
Wie Demokratie und (digital-)technologische Entwicklung verbunden sind, ist eine keineswegs triviale Frage. Natürlich ist Digitalisierung keine Kraft, die nur von außen auf die Demokratie wirkt. Allein weil eine bestimmte Technologie existiert, ist nicht festgelegt, wie sie verwendet wird und zu welchen Entwicklungen sie beiträgt. Wir Menschen haben immer die Wahl. Umgekehrt beeinflusst auch die Art, wie wir Technologien verwenden, welche weiteren neuen Technologien entstehen (können) und wie diese genutzt werden.
Digitalisierung ist, was wir daraus machen
Worüber sprechen wir, wenn wir den Begriff Digitalisierung benutzen? Auf einer abstrakt-technischen Ebene wird so der Einsatz von Verfahren der elektronischen Informationsverarbeitung bezeichnet. Dabei werden Daten in binärer Form gespeichert und es ist möglich, sie in großen Mengen zu archivieren, zu kopieren, algorithmisch zu verarbeiten oder einfach zu vernetzen. So entstehen Potentiale, die es ohne bestimmte technologische Innovationen nicht geben würde. Wie und in welcher Form sie allerdings realisiert werden und sich durchsetzen, ist weniger durch die Technologie selbst bestimmt. Das ist eine Frage gesellschaftlicher oder politischer Entscheidungen und vor allem sozioökonomischer Faktoren.
Dass wir es momentan mit einem Plattformkapitalismus zu tun haben, ist keine Zwangsläu figkeit des Internets. Dieser Zustand ist vielmehr ein Ergebnis regulatorischer Entscheidungen, in Bezug sowohl auf die technischen Grundlagen von Kommunikation als auch etwa auf wirtschaftliche Monetarisierungsmechanismen.
Demokratie ist mehr als Wählen gehen
Demokratie meint die Selbstregierung der Bürger:innen. Die Gesetze, nach denen ein Gemeinwesen regiert und geordnet wird, brauchen zunächst eine Entscheidung und später die andauernde mehrheitliche Zustimmung der Bürger:innen; dies ist der Kern demokratischer Legitimität. Demokratie ist damit mehr als eine fürsorgende Ordnung, sie verlangt, dass Bürger:innen sich aktiv einbringen.
Das politische System muss daher so organisiert sein, dass potentiell alle Bürger:innen regelmäßig Einfluss ausüben können. Demokratie muss die Repräsentation all ihrer Bürger:innen und deren Anliegen und Perspektiven so sicherstellen, dass ein freiheitliches und respektvolles Miteinander ermöglicht und eine für alle nachvollziehbare Entscheidungsfindung über gemeinsame Angelegenheiten erreicht wird. Freiheit und Gleichheit sind die Bezugspunkte der Demokratie. Sie müssen immer wieder aufs Neue durch Partizipation hergestellt werden.
Die entscheidende Rolle der demokratischen Öffentlichkeit
Eine funktionierende Demokratie stellt sicher, dass ihre Bürger:innen sich im öffentlichen Diskurs angemessen informieren, sich eine Meinung bilden und diese auch wirkungsvoll vertreten können. Gleichzeitig muss die demokratische Öffentlichkeit so organisiert sein, dass, bei allen individuellen und widerstreitenden Positionen, eine gesellschaftsweite Verständigung möglich ist. Die demokratische Öffentlichkeit muss ein Gegengewicht zur organisierten Politik bilden und dafür sorgen, dass niemand ausgeschlossen oder manipuliert wird.
Konkret: Die Bürger:innen müssen Möglichkeiten zur Kontrolle, Gestaltung und Korrektur des politischen Systems haben. Politische Macht wird begrenzt – dadurch, dass sie nur auf Zeit vergeben wird und es gleichzeitig Kontrollmechanismen gibt. Grund- und Menschenrechte garantieren, dass die Bürger:innen sich beteiligen und Widerspruch einlegen können. Der Rechtsstaat sorgt dafür, dass staatliche Entscheidungen an explizite Regeln gebunden sind und von dritter Stelle überprüft werden können. Gleichzeitig muss neben staatlicher auch private Macht auf bestimmte Bereiche begrenzt bleiben. Niemand darf in einer funktionierenden Demokratie die Möglichkeit haben, den öffentlichen Diskurs oder die politische Entscheidungsfindung nach eigenen Interessen zu formen oder gar zu determinieren.
Digitalisierung aktiv im Sinne der Demokratie gestalten
Digitalpolitik überschneidet sich zunehmend stärker mit anderen Politikfeldern, weil die Digitalisierung immer mehr gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Bereiche durchdringt – und häufig strukturiert. Dabei folgt Digitalisierung keiner vorgegebenen Sachlogik. Sie bringt vielmehr immer unterschiedliche Optionen mit sich, die nicht einfach passieren, sondern bewusst gesteuert und gestaltet werden können – und müssen. Hierfür muss gefragt werden, wer technologische Entwicklungen begleiten und beeinflussen kann und mit welchem Ziel. Darin liegt eine große Chance. Die Gesellschaft muss technologische Entwicklungen nicht ohnmächtig über sich ergehen lassen, sondern kann sie aktiv gestalten: im Sinne der Demokratie.